Aufklärung im 21. Jahrhundert
LV-Logo

Eine persönliche Meinung: Besser kein Gesetz als ein schlechtes

Wie geht es weiter mit der Suizid-Beihilfe?

Von Michael Rux

Der Artikel wurde ursprünglich geschrieben für den AK 60 plus der SPD Freiburg. Veröffentlichung mit Erlaubnis des Autors.

Dieser Artikel als pdf.

Stand: 13.07.23

Als ich im November 2021 beim Arbeitskreis 60 plus der Freiburger SPD einen Vortrag zum Thema „Beihilfe beim Suizid“ hielt, betonte ich: „Dieser Vortrag ist keine Werbung für den Freitod, sondern ein Plädoyer für die Selbstbestimmung, für das Recht des Menschen, über das eigene Leben und Sterben frei und selbstverantwortlich zu verfügen“.

Anlass für meinen Vortrag war die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020, in der das höchste deutsche Gericht festgestellt hatte, das allgemeine Persönlichkeits-recht umfasse ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Es schließe die Freiheit ein, hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen. Die Entscheidung des Einzelnen, der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, sei als „Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesell-schaft zu respektieren.“

Das Gericht erklärte damit den Paragrafen 217 des Strafgesetzbuchs für verfassungswidrig und nichtig, der im Jahr 2015 von einer parteiübergreifenden, eher religiös-christlich orientier-ten Mehrheit des Bundestags beschlossen worden war. Seitdem war jede Person – mit Aus-nahme von Verwandten oder engen Freunden – mit bis zu drei Jahren Gefängnis bedroht, die „geschäftsmäßig“ (also mehr als nur einmal) einem Sterbewilligen beim Suizid beistand.

Zuvor, also bis 2015, hatte in Deutschland gegolten, was das – damals noch monarchisch regierte – deutsche Reich 1871 im Strafgesetzbuch festgesetzt hatte: Der Staat verzichtete darauf, den Suizid strafrechtlich als Verbrechen einzustufen. Und weil auch die Beihilfe zu einer Handlung, die nicht strafwürdig ist, nicht bestraft werden kann, war auch der Beistand beim Freitod nicht mehr strafbewehrt. Damit hatte Deutschland vor gut 150 Jahren die tau-sendjährige Tradition des christlichen Abendlands beendet, den Freitod als Sünde anzusehen, weil der Mensch damit sein von Gott geschenktes Leben wegwerfe.

Dieser bis 2015 geltende Rechtszustand ist 2020 vom Bundesverfassungsgericht wiederher-gestellt worden – erweitert dadurch, dass unser höchstes Gericht ausdrücklich betonte, das Recht auf Beihilfe bei der Selbsttötung – damals und heute spricht man abwertend von „Selbst-mord“ – sei nicht auf schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt, sondern bestehe in jeder Phase menschlicher Existenz. Auch der „Bilanz-Suizid“ am Ende eines erfüllten Lebens ist von dieser Definition umfasst.

Um Missverständnisse zu vermeiden, will ich betonen, dass es beim Recht auf selbstbestimm-tes Sterben um einen „wohlerwogenen Suizid“ geht und auch weiter gehen wird. Daneben – und in weitaus höherer Zahl – stehen die anderen Arten der Selbsttötung, vor allem der soge-nannte „harte“ Suizid, also der Sprung von der Brücke, der selbstgewählte Tod auf den Bahn-schienen, die spontane, unüberlegte Verzweiflungs-Selbsttötung, der Suizid von seelisch Kranken oder von nicht mehr oder noch nicht entscheidungsfähigen Menschen, beispielsweise Kindern und Jugendlichen. In all diesen Fällen muss unser aller Ziel und das Ziel des Staates sein, die Selbsttötung zu vermeiden oder sogar aktiv zu verhindern. Das steht für mich außer Frage.

Dafür reichen jedoch nach meiner Überzeugung die bestehenden allgemeinen Gesetze, vor allem das geltende Strafrecht ohne den verfassungswidrigen § 217 aus. Und dass die sozialen und medizinischen Maßnahmen der Suizidverhinderung, beispielsweise durch (freiwillige!) Be-ratung, durch finanzielle Unterstützung oder eine in allen medizinischen Einrichtungen ange-botene Palliativ-Medizin, verbessert werden können und müssen, steht außer Frage.

Deshalb hätten wir es meiner Meinung nach bei der 2020 wiederhergestellten Rechtslage gut belassen können. Das erweist sich auch dadurch, dass die beiden bekanntesten Sterbehilfe-Organisationen, die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben und der „Verein Sterbehilfe“ des Hamburger Anwalts Kusch, die seit 2015 wegen des § 217 StGB untätig geblieben waren, seit 2020 wieder jährlich Hunderten von Suizidwilligen beim selbstbestimmten Sterben gehol-fen haben, ohne dass auch nur in einem einzigen Fall Beanstandungen vorlagen oder vorge-bracht wurden.

Nur in einem Punkt sah und sehe ich einen rechtlichen Handlungsbedarf: Das geltende Be-täubungsmittelrecht versperrt den Normal-Sterblichen den straffreien Zugang zu dem sanftes-ten Mittel des selbstbestimmten Suizids, dem Medikament Natrium-Pentobarbital. Ich hielt und halte es für notwendig, dieses Gesetz zu ändern. Aber sonst wäre meiner Meinung nach keine gesetzliche Regelung für die Praxis der Sterbehilfe nötig.

Eine Mehrheit der Abgeordneten (und auch ein großer Teil der – wie üblich – nicht besonders gut informierten und informierenden – öffentlichen Meinung) sieht das anders. Insbesondere die eher religiös-christlich orientierte Abgeordnetengruppe, die 2015 den verfassungswidrigen § 217 StGB beschlossen hatten, strebte danach, eine erneuerte Form des Sterbehilfe-Verbots ins Strafgesetz zu schreiben und jetzt zusätzlich auch die „Werbung“ für den Beistand beim Freitod zu verbieten. Im Gegenzug machten sich eher säkular orientierte Abgeordnete auf den Weg, hierzu ebenfalls einen Gesetzentwurf zu verfassen. Schließlich lagen dem Bundestag jetzt – im Juli 2023 – zwei parteiübergreifende Gesetzesanträge vor, mit denen das Verfahren bei dieser Beihilfe im Einzelnen geregelt werden sollte.

Dass ich ein modifiziertes Sterbebeihilfe-Verbot, also einen neuen § 217, für den falschen Weg gehalten hätte, dürfte nach den obigen Ausführungen klar sein. Aber auch der Gegenentwurf der säkularen Seite, der mir in vielen Punkten viel sympathischer war und durchaus geeignet erschien, die Sterbe-Beihilfe juristisch sauber zu regulieren und den Helfer*innen die Angst vor dem Strafrecht zu nehmen, wies deutliche Nachteile auf. Ich meine vor allem das darin vorgesehene mehrstufige Beratungsverfahren, das in fataler Weise der aus gutem Grund um-strittenen und von vielen Frauen abgelehnten Pflicht-Beratung bei der Abtreibung (§ 218 StGB) ähnelt.

Insofern halte ich es keineswegs für ein Verhängnis oder gar ein „Versagen“ der parlamenta-rischen Demokratie, dass beide Gesetzentwürfe im Bundestag scheiterten. Ich kann mit der gegenwärtigen Rechtslage gut leben, und falls ich je in die Lage kommen sollte, meinem Le-bens selbst ein Ende setzen zu wollen, würde mir diese Rechtslage ein selbstbestimmtes Ster-ben ermöglichen. Allenfalls der Umstand, dass die erwähnte „sanfte Pille“ nach wie vor als verbotene Droge zählt, bleibt unbefriedigend. Aber auch hier hat sich gegenüber dem Rechts-zustand vor 2015 nichts geändert: Auch früher führte ein gangbarer Weg über die erwähnten Sterbehilfe-Organisationen oder über gut informierte, human denkende und handelnde Ärztin-nen und Ärzte.

Ich bin jedoch enttäuscht, dass so gut wie nirgends ausführlich und korrekt über ein sehr er-freuliches Begleit-Ereignis berichtet wurde: Am 7. Juli sind nicht nur die beiden konkurrieren-den Beihilfe-Anträge durchgefallen, sondern beide Abgeordnetengruppen, die „Religiösen“ und die „Säkularen“, haben einen gemeinsamen Beschlussantrag* eingebracht und ihm über alle ideologischen Grenzen hinweg mit großer Mehrheit zugestimmt. Darin fordern sie die Bun-desregierung auf, ein ganzes Maßnahmenpaket für eine verbesserte Suizidprävention vorzu-legen und die palliativmedizinische Versorgung flächendeckend zu sichern. Dass sich die An-gehörigen der demokratischen Fraktionen in diesem Bemühen um eine „nationale Strategie zur Suizidprävention“ zusammenfanden, ist ein Zeichen für die Stärke unserer Demokratie.

Denn bei der Diskussion um den Freitod dürfen wir nicht nur über das Grundrecht auf ein selbstbestimmtes Sterben und die Beihilfe dabei diskutieren, sondern wir müssen auch über alle die Selbsttötungen und ihre Vermeidung nachdenken, die nicht „wohlüberlegt“ erfolgen, sondern aus seelischer oder materieller Not, Unkenntnis oder Verzweiflung. Jeder derartige Suizid ist einer zuviel. Es ist aller Anstrengung wert, den Betroffenen (und ihren Angehörigen!) Beistand bei der Vermeidung oder Verhinderung solcher Taten zu leisten, so wie es eine hu-mane Aufgabe ist, jenen, die wohlüberlegt und selbstbestimmt ihr Leben beenden wollen, Hilfe zu leisten.

* Dieser Antrag kann unter der Drucksachen-Nummer 20/7630 im Internet nachgelesen werden.

Zur Person:

Michael Rux, geboren 1941, war Lehrer und – seinerzeit als erster bekennender Nicht-Christ –Rektor einer Christlichen Gemeinschaftsschule. Der Schwerpunkt seiner (politischen) Arbeit lag und liegt in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), in der er auf Bundes- und Landesebene (Baden-Württemberg) eine Vielzahl von Ehren-Ämtern bekleidete, von der Mitgliedschaft im Geschäftsführenden Bundesvorstand über den stellvertretenden Landesvor-sitz bis hin zu seiner Funktion als Leiter des Fachbereichs Seniorenpolitik. Er gibt seit über 30 Jahren das „Jahrbuch“ der GEW Baden-Württemberg heraus, ein Standardwerk des Schul- und Dienstrechts. Ein Interessenschwerpunkt ist das Verhältnis der öffentlichen Schule zur Religion bzw. von Staat und Kirche(n) im Bildungswesen.

www.gbs-landesverband-bw.de/ix004RuxSuizidbeihilfe.php | Stand 27.04.2024 12:51